UCI GRAN FONDO WORLD CHAMPION 2022: STEFAN KIRCHMAIR

24.10.22 15:30:30
Ich habe mein ganz großes Saison-Ziel erreicht und meine Siegesserie in 2022 mit dem Weltmeistertitel gekrönt! 

Die Strecke in Trient kam mir mit 143,8 km und 3.900 Höhenmetern, verteilt auf 2,5 Auffahrten zum Monte Bondone, sehr entgegen und nicht nur deshalb wurde ich von allen Seiten als Top-Favorit gehandelt. "Der Mann, den es zu schlagen gilt“, „the man to beat" wurde da getitelt im Vorfeld.
2022 UCI Gran Fondo World Championship Trento - Höhenprofil
Mit diesem Druck konnte ich gut umgehen und dank meines Landmanns Rene Pammer auch die bärenstarke Konkurrenz der zahlenmäßig überlegenen Nationen in Schach halten. Nach einer perfekten Attacke der Belgier, die uns kurz ins Hintertreffen brachte, drückten wir beide dem Rennen unseren Stempel auf, selektierten am ersten Anstieg mit 1.300 Höhenmetern das Feld auf nur noch 12 Fahrer. Nach Abfahrt und Rückkehr der Verfolgergruppe gab es am zweiten Anstieg kein Pardon - bis zur zweiten Überfahrt des Monte Bondone konnten nur noch 3 weitere Fahrer unser Tempo-Diktat mitgehen - Rene und ich nahmen volles Risiko. 

Trotz des Anstiegs war es unseren verbleibenden Mitstreitern Sieben Devalckeneer (BEL), Simon Betz (GER) und Dimitri Bussard (SUI) möglich, im Windschatten ordentlich Kräfte zu sparen. Es galt nun also, auf den verbleibenden letzten Höhenmetern unser immenses Investment zu belohnen und den WM-Titel nach Österreich zu holen, obwohl wir beide bereits voll am Limit fuhren. Doch das Tempo und die Ermüdung steckten auch unseren Kontrahenten schon sichtlich in den Knochen – es war ein Rennen mit offenem Visier.
Den finalen, relativ flachen Anstieg eröffnete ich mit einer Attacke, die erstmals die Mitstreiter zur Verantwortung zwang. Leider konnte ich mich nicht absetzen, weil natürlich jeder mit meinem Angriff gerechnet hatte. Rene hatte deutlich mehr Glück, als er sich wenig später durch konstant hohes Tempo von der Gruppe “wegschleichen” konnte. Ich übernahm meine Rolle perfekt, fuhr ihm nicht nach und so reagierte zuerst niemand, was Rene schnell 10, dann 20 Sekunden Vorsprung ermöglichte - dies nur 3 Kilometer vom Gipfel entfernt.

Mit jedem Meter ohne ernsthafte Tempoverschärfung der Gegner wurde Renes Vorsprung größer und ich begann mich damit abzufinden, dass das Rennen für mich gelaufen war. Einerseits enttäuscht, dass ich nicht an der Spitze war und das Rennen gewinnen konnte, andererseits erleichtert, dass wir nicht einem unserer Mitstreiter den WM-Titel auf dem Silbertablett serviert hatten. Österreich würde den Weltmeister stellen!

Schlussendlich nahm sich unser Schweizer Begleiter, der schon vorher den stärksten Eindruck gemacht hatte, ein Herz und versuchte, sich abzusetzen. Mehrmals ging er mit 600-700 Watt aus dem Sattel, doch damit hatte ich gerechnet und konnte gut mithalten, während der Belgier deutlich länger brauchte, um wieder aufzuschließen. Der Deutsche Simon Betz konnte dem Tempo nicht mehr folgen und auch Rene vor uns sah aus der Distanz von 100-150 Metern nicht mehr ganz so flüssig aus.

So kam es, dass wir unter der Tempoarbeit des Schweizers ca. 1 Kilometer vor dem Gipfel wieder an Rene anschließen konnten - das Rennen war wieder offen und der Druck auf meinen Schultern größer denn je. Noch war es zu früh, um zu attackieren - meine beste Chance sah ich in einer "Last Minute" Attacke über die letzte Kuppe, um dann in der Abfahrt hoffentlich meine Streckenkenntnis ausspielen zu können. Ein Sprint auf den letzten Metern war angesichts der verwinkelten Zieleinfahrt sehr riskant und gefährlich - aus meiner Sicht alles andere als optimal für eine Weltmeisterschaft! 

Viel Geduld war gefordert, um auf den richtigen Moment zu warten, bis die Steigung nochmal zulegte und der Gipfel, versteckt hinter 2 Kurven, nur noch weitere 500 Meter entfernt war. Mit allem, was mein Körper noch leisten konnte, startete ich zur Attacke aus hinterer Position aus der Gruppe und konnte schnell ein Loch reißen. Nur der Belgier, der offensichtlich perfekt geblufft hatte, hing nach 50 Sekunden "all out" mit 500-600 Watt am höchsten Punkt noch mit 2 Radlängen Rückstand an mir dran. Dies motivierte mich zusätzlich, in der Abfahrt das Rennen zu entscheiden und dem Belgier keine Chance zu geben, noch um den Sieg mitzusprinten. 

Mit voller Konzentration und Vollsprint aus jeder Kehre ging es bergab. Ich schrie mir dabei die Stimme aus dem Hals, um die mit gefühlt halber Geschwindigkeit abwärts fahrenden Medio Fondo FahrerInnen zu warnen, dass ich mit 70km/h angeschossen kam – leider ohne Vorausfahrzeug! Sehr gefährlich, denn natürlich waren die Fahrer nicht darauf gefasst, zum Teil sehr unsicher unterwegs und sichtlich völlig verausgabt nach ihrem eigenen Rennen. 

Ein kurzer Blick zurück in der letzten Kehre zeigte mir das Bild, das ich erhofft hatte: Der Belgier war chancenlos, meine Pace mitzugehen, lag mindestens 15-20 Sekunden zurück. Somit musste ich nur noch die letzten 2 Kilometer sicher ins Ziel kommen – angesichts der Streckenführung allerdings gar nicht so einfach! Von der 4-spurigen, komplett gesperrten Prachtstraße am Ufer der Etsch, wo wir auch gestartet waren, ging es rechts ab und wenig später links in eine gepflasterte Fußgängerzone eines Studentencampus mit knapp 2,5 Meter Breite als Zielgerade, begrenzt von Absperrgittern. Abgesehen von der gefährlichen Einfahrt auf diesen Sektor und dem fehlenden Platz für einen fairen Sprint, lag zudem bis 20 Meter vor dem Zielstrich alles im Schatten.

Einfach nur froh, dass ich auf der Zielgeraden auch noch an den letzten Medio Fondo FahrerInnen bremsend und schreiend irgendwie vorbei fahren konnte, rollte ich also als neuer Weltmeister ins Ziel in Trento!
Foto: Filippo Tommasini
31 Sekunden betrug letztendlich der Vorsprung auf den Schweizer Dimitri Bussard, der den Belgier Sieben Devalckeneer auf den letzten Metern noch überholen konnte und sich die Silbermedaille sicherte. Leider etwas abgeschlagen und nach seinem unermüdlichen Pacing sowie Solofahrt am letzten Anstieg nicht mehr in der Lage, in den Kampf um die Medaillen einzugreifen, kam Rene Pammer dank unserer entschlossenen Selektion aber noch als sicherer, wenn auch undankbarer Vierter ins Ziel. Ebenso noch vor den vielen geschlagenen Mit-Favoriten aus der Verfolgergruppe sicherte sich Simon Betz aus Deutschland den fünften Platz, während erst knapp dahinter die ersten Franzosen (u. a. Mit-Favorit Loïc Ruffaut) und die Titelverteidiger aus Italien das Ziel erreichten. 

Ich erzielte mit 4:14,06 Stunden die Tagesbestzeit über alle Altersklassen - Schnitt knapp 34 km/h, 319 Watt (Normalized). 
1. Anstieg: Aldeno => Monte Bondone: 58 Minuten, 345 Watt 
2. Anstieg: Cadine => Monte Bondone: 48 Minuten, 354 Watt
3. Anstieg: Cadine => Candriai: 21 Minuten, 341 Watt

Bei meiner ersten Teilnahme direkt den UCI Gran Fondo Weltmeistertitel holen zu können ist fantastisch! Danke an alle, die mich auf dem Weg dorthin und vor Ort unterstützt haben!

Ich freue mich nun auf eine verdiente Pause und werde dann etwas später wieder mit schnellen Indoor-Rennen der Zwift Racing League ins Training einsteigen. Dazu bin ich schon intensiv an der Outdoor-Planung für 2023 - das wird sicher wieder eine spannende Saison mit auch einigen neuen Rennen in meinem Kalender!

Euer Stefan